Die Transformation der ostdeutschen Hochschulen in den 1980er/90er Jahren

Die Transformation der ostdeutschen Hochschulen in den 1980er/90er Jahren: Potsdam in vergleichender Perspektive

Organisatoren
Frank Bösch, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung / Universität Potsdam; Dominik Geppert, Universität Potsdam
PLZ
14415
Ort
Potsdam
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
30.06.2023 -
Von
Jary Koch, Universität Potsdam

Über den Zusammenschluss von Ost- und Westdeutschland wird in den letzten Jahren intensiv gestritten. Wie bei Dirk Oschmanns viel diskutiertem Essay steht dabei häufig die westdeutsche Dominanz in den ostdeutschen Führungspositionen seit 1990 im Vordergrund, insbesondere an den Universitäten.1 An der Universität Potsdam sorgte umgekehrt 2016 Manfred Görtemakers Vorwurf für Diskussionen, dass eine zu großzügige Übernahme der Belegschaft aus DDR-Zeiten zu „einer langfristigen Blockade“ der Forschungsentwicklung geführt habe.2 Aus dieser Kontroverse entstand ein von Frank Bösch und Dominik Geppert geleitetes und von der Universität Potsdam finanziertes Forschungsprojekt, bei dem drei Doktorand:innen die Transformation der ostdeutschen Hochschulen in den 1980er- und 1990er-Jahren untersuchen.3 Die Tagung sollte dieses Projekt mit weiteren Forschungen in Austausch bringen.

Angelegt als Universitäts- und Hochschulgeschichte mit Bezügen zur Wissenschaftsgeschichte, versuche das Projekt die unterschiedlichen Erfahrungen und Handlungen der jeweiligen Statusgruppen zu berücksichtigen und die Entwicklungen in Potsdam in vergleichender Perspektive zu untersuchen, erläuterte DOMINIK GEPPERT (Potsdam) eingangs. FRANK BÖSCH (Potsdam) betonte als Leitfragen das Ausmachen zeitgenössischer Bewertungen bei der Überprüfung, die disziplinspezifischen Logiken sowie das Spannungsverhältnis zwischen Landespolitik und lokalen Entscheidungen von unten. Nötig sei eine Einbettung in die breitere Erforschung der Transformation, die bei den Hochschulen besonders drastisch ausfiel.

Das erste Panel eröffnete mit THOMAS HEINZE (Wuppertal) ein Soziologe, der Daten zur Entwicklung von Lehr- und Forschungsprofilen ostdeutscher Universitäten von 1992 bis 2018 vorstellte. Im Ergebnis identifizierte er viele Kontinuitäten, aber auch einige Brüche und markante Profilverschiebungen: An ostdeutschen Unis habe etwa die Zahl der Fächer stärker zugenommen als im Westen, aber welche dies waren, hinge von den Unis ab. PEER PASTERNACK (Halle) machte in seinem anschließenden Beitrag über den Wandel der Kommunikation zunächst auf gewisse Öffnungsprozesse in der DDR-Wissenschaft in den 1980er-Jahren aufmerksam. Mit dem Systemumbruch sei dann ein Abbruch der Ost-West-Kommunikation einhergegangen, da die ehemaligen DDR-Wissenschaftler:innen von nun an als nicht zitierfähig galten und ein gewisser „DDR-Orientalismus“, mit dem zuvor westdeutsche Tagungen ihr Programm ergänzt hatten, keine Bedeutung mehr hatte.

LARA BÜCHELs (Potsdam) Vortrag konzentrierte sich auf die Verdrängung von Frauen aus den ostdeutschen Universitäten. Entlang eines Vergleichs der Entwicklungen in Potsdam und Leipzig erklärte sie dies unter anderem damit, dass Frauen häufiger im Mittelbau und in den Geisteswissenschaften beschäftigt waren, die besonders stark abgewickelt wurden. Bei Neueinstellungen wurden mitunter gezielt Ostdeutsche berücksichtigt, nicht aber Frauen. So wurden etwa in Sachsen von 400 C4-Professuren nur 9 mit Frauen besetzt, obwohl die Habilitationsrate unter Frauen im Osten sehr viel höher war. KRIJN THIJS (Amsterdam) referierte anschließend zu einer deutsch-deutschen Interaktionsgeschichte der HU-Historiker:innen zwischen 1990 und 1993, die er als Dreiecksbeziehung zwischen Ost- und Westwissenschaftler:innen und Bürgerrechtler:innen fasste. Die überlappenden Kommissionen führten zu vielen Wendungen und Brüchen, die er unter anderem entlang des Wirkens von Gerhard Ritter in der Berufungskommission vorstellte. Thijs schlussfolgerte, dass die westdeutschen Gutachter zurückhaltend waren und die Abwicklung letztlich den Ostdeutschen überlassen wollten. Das inhaltlich wie methodisch erkenntnisreiche Panel beendete ELISA SATJUKOW (Leipzig) mit einem Vortrag zur Rolle der Ost- und Südosteuropawissenschaften in den Umbrüchen der 1980er/1990er-Jahre. Satjukow rekonstruierte zunächst die Geschichte der Osteuropastudien und zeigte anschaulich die Notwendigkeit der Dekolonisierung der eigenen Disziplin auf. Im Hinblick auf die Transformation zeichne sich ab, dass die Osteuropaforschung im Westen eher von Kontinuitäten als von Brüchen geprägt war, während sie als Disziplin in den Osten neu importiert wurde, was zu einem Nebeneinander von traditionellen Institutionen und solchen nach westlichem Vorbild führte.

In der Diskussion rückte die geschlechtergeschichtliche Dimension der Transformation wieder in den Vordergrund, da aus dem Publikum heraus in Frage gestellt wurde, ob die Empirie tatsächlich die Interpretation einer bewussten Verdrängung von Frauen zulasse. Der Einwand – in der Sache kaum überzeugend – führte nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Kontinuität unzureichender Gleichstellung zu Irritationen. Aufeinander stießen hier zudem die Positionen von Zeitzeug:innen und jüngeren Historiker:innen. Die zeitgeschichtliche Forschung, so eine Meinung in der Diskussion, brauche daher zumindest eine offenere Auseinandersetzung mit Positionalität.

Mit ERIK FISCHER (Leipzig) wandte sich der Blick anschließend von der Universität weg hin zur Schule. Fischer, der zur Transformation des Schulwesens am Beispiel des Schulbezirks Leipzig promoviert, zeigte in seinem Vortrag, wie die Einzelüberprüfung hinsichtlich der Integrität von Lehrer:innen im Freistaat zu unterschiedlichen Konflikten führte. So lösten sowohl Entscheidungen für als auch gegen Entlassungen Proteste aus, die teilweise jahrelange juristische Auseinandersetzungen nach sich zogen. JÖRN-MICHAEL GOLL (Leipzig) stellte daran anknüpfend seine Forschung zur Rolle der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) im Vereinigungsprozess vor. Obwohl die Hochschulen für die GEW im Vergleich zu Schulen und Kindergärten eher eine untergeordnete Rolle spielten, sah sie in der postrevolutionären Situation eine Chance, um eine grundlegende Reform des bundesdeutschen Hochschulsystems voranzutreiben. Konfrontiert mit einem massiven Stellenabbau konnte die Gewerkschaft diesem Anspruch jedoch kaum gerecht werden, auch wenn sie in der Rechtsberatung und der Begleitung einzelner Erneuerungsprozesse von unten teilweise Wirksamkeit entfaltete.

Mit einer Dynamik von unten – in diesem Fall Studierendenproteste – eröffnete auch AXEL-WOLFGANG KAHL (Potsdam) seinen Vortrag über Abwicklungen am Beispiel der Rechtswissenschaften in Potsdam, in dem er die gängige Erzählung eines „Brandenburger Wegs“ einer historischen Überprüfung unterzog. Diese schien erklären zu können, warum die Studierendenproteste gegen Abwicklungen Anfang der 1990er-Jahre in Leipzig und Berlin andauerten, während sie in Potsdam nach kurzer Zeit abebbten. Überzeugend legte Kahl dar, dass sich zwar durchaus Besonderheiten in der Brandenburger Personal- und Hochschulpolitik in der Transformation nachweisen lassen. Gleichwohl existierten zu viele Parallelen zu anderen ostdeutschen Bundesländern, als dass es sinnvoll erscheine, von einem „Brandenburger Weg“ zu sprechen. DOROTHEA HORAS (Potsdam) betrachtete in ihrem Beitrag am Beispiel der Berufungen im letzten Jahr der DDR die Brüche und Kontinuitäten im Hochschulumbau Ost. Das dichotome Bild von ideologisierten Geisteswissenschaften und eher neutraleren Naturwissenschaften sei nicht aufrechtzuerhalten, da letztere ebenfalls eng in die SED-Herrschaft eingebunden waren.

Die Abschlussdiskussion leitete MITCHELL ASH (Wien) mit einigen grundsätzlichen Überlegungen ein. Er betonte die Prozesshaftigkeit längerer Trends, ebenso die Unvorhersehbarkeit des Mauerfalls sowie die enorme Dynamik und Offenheit der folgenden Monate. Er erinnerte daran, dass Historiker:innen auch ihre eigenen Konstruktionen von Kontinuitäten immer wieder reflektieren müssten. In der darauffolgenden Diskussion war man sich weitgehend einig, dass die Tagung dazu beigetragen habe, zentrale Kategorien und Deutungen weiter zu differenzieren. Weiterhin historisiert werden müssten die großen Deutungsmuster, zu denen die „Transformation“ in ähnlicher Weise gehöre wie Theorien der „Übernahme“ oder „Kolonisierung“. In diesem Zusammenhang könnte auch die angezeigte Debatte zur Positionalität geführt werden.

Insgesamt gelang es der Tagung, mikrogeschichtliche Befunde in größere Trends einzuordnen, ohne den Blick für die Besonderheiten der lokalen Konstellationen zu verlieren. Das Ineinandergreifen von Landes-, Hochschul- und Transformationsgeschichte rief herausfordernde aber ebenso aufschlussreiches Diskussionen hervor, die sicherlich Eingang in die vorgestellten Forschungsprojekte finden werden. Mehr Beachtung hätten dabei die Erfahrungen und Handlungen der größten Statusgruppe an Universitäten – die Studierenden – finden können. Eine gute Grundlage für derlei Untersuchungen ist mit den vorgestellten Projekten gelegt.

Konferenzübersicht:

Panel 1: Wandel der Universitätsstrukturen

Thomas Heinze (Wuppertal): Die Entwicklung der fachlichen Forschungs- und Lehrprofile ostdeutscher Universitäten

Peer Pasternack (Halle): Wandel der Kommunikation an ostdeutschen Unis

Panel 2: Wandel der Geisteswissenschaft

Lara Büchel (Potsdam): Geisteswissenschaftlerinnen vor, während und nach 19989 – Der Vereinigungsprozess und die Verdrängung von Frauen an den ostdeutschen Universitäten

Krijn Thijs (Amsterdam): Schauseite und Kehrseite: Eine deutsch-deutsche Interaktionsgeschichte der Humboldthistoriker 1990-1993

Elisa Satjukow (Leipzig): Osteuropa (ver)lernen. Die Rolle der Ost- und Südosteuropawissenschaften in den Umbrüchen der 1980/90er Jahre

Panel 3: Schule und Bildung im Wandel

Erik Fischer (Leipzig): „Wir wollen, dass unsere Lehrerin bleibt!“ - Personalentscheidungen im sächsischen Schulwesen nach 1989/90

Jörn-Michael Goll (Leipzig): Die GEW und der Umbau der ostdeutschen Hochschulen Anfang der 1990er Jahre

Panel 4: Brüche und Kontinuitäten im Hochschulumbau Ost

Axel-Wolfgang Kahl (Potsdam): „Uni am Abbruch oder Aufbruch?“ – Abwicklungen am Beispiel der Rechtswissenschaften 1990/1991

Dorothea Horas (Potsdam): Umkämpfte Erneuerung – Die Berufungen im letzten Jahr der DDR

Abschlussdiskussion
Mitchel Ash (Wien): Impulsvortrag

Anmerkungen:
1 Vgl. Dirk Oschmann, Der Osten: eine westdeutsche Erfindung, Berlin 2023.
2 „Debatte um DDR-Vergangenheit an der Universität Potsdam“, Tagesspiegel vom 24.02.2016, https://www.tagesspiegel.de/potsdam/landeshauptstadt/eine-umstrittene-geschichte-7190590.html (03.07.2023.
3 Vgl. https://www.uni-potsdam.de/de/hi-neuere-geschichte/projekte/ostdeutsche-hochschulen-1980-90 (03.07.2023).

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